Zurück in die Zukunft. 90 Jahre Ladenstraße.

Von Ute Scheub

Die Ladenstraße, die jetzt ihr 90-jähriges Jubiläum feiert, stellt in jeder Hinsicht ein Denk-mal dar. Nicht nur architektonisch ist sie eine Besonderheit, weshalb sie auch unter Denkmalschutz steht, sondern auch sozial und ökologisch. Sozial, weil sie mit ihren inhabergeführten Geschäften dem Discounter-Einerlei getrotzt hat – wenn auch mit großen Mühen. Und weil sie nach wie vor ein soziokulturelles Zentrum ist, ein Treffpunkt der Nachbarschaft, ein Ort, wo man gerne zu einem Schwätzchen stehen bleibt. Ökologisch, weil man ohne Auto herkommt und auskommt. Die „Lala“, wie sie in der Siedlung liebevoll heißt, ist damit ein Ort der Vergangenheit und der Zukunft: Berlins erste und einzige Shopping Mall durch die eine U-Bahn fährt. So sollten in Zeiten der Klimakrise auch zukünftig Einkaufspassagen aussehen. Das Motto des Jubiläums heißt deshalb völlig zu Recht: Zurück in die Zukunft.

Heute kann man sich kaum mehr vorstellen, welche enorme Bedeutung der Bau der Siedlung und der Ladenstrasse hatten. Die riesige Mehrheit der Bevölkerung litt in den 1920er und 1930er Jahren unter wirtschaftlicher und sozialer Not. Arbeiterfamilien lebten in beengten menschenunwürdigen Mietskasernen des „steinernen Berlin“. Im Auftrag der AOK hielt ein Berliner Arzt mittels einer Umfrage im Jahr 1912 Folgendes fest: „Eine in Berliner Volksschulen unter Kindern von 6 und mehr Jahren durchgeführte Statistik ergab: 70% hatten keine Vorstellung von einem Sonnenaufgang, 76% kannten keinen Tau, 49% hatten nie einen Frosch, 53% keine Schnecke, 87% keine Birke, 59% nie ein Ährenfeld gesehen; 66% kannten kein Dorf, 67% keinen Berg, 89% keinen Fluß. Mehrere Schüler wollten einen See gesehen haben. Als man nachforschte, ergab es sich, daß sie einen Fischbehälter auf dem Markt meinten.“

Das Helle, das Weite, die Natur – die Waldsiedlung entsteht

Dem setzten die Architekten Bruno Taut, Hugo Häring und Otto Salvisberg mit dem Bau der „Waldsiedlung Zehlendorf“ von 1926 bis 1931 das Helle, das Weite, die Natur entgegen. Kinder sollten in Licht und Luft aufwachsen, vor und hinter den Häusern spielen dürfen. Entsprechend groß war die Dankbarkeit der Familien, die ab 1927 im Südteil der Siedlung die ersten fertigen Häuser bezogen. Wegen ihrer bunten Fassaden verpassten ihr die Konservativen den Spitznamen „Papageiensiedlung“, der sich im Laufe der Zeit aber zum Positiven wandte. „1927 waren wir hier ja so ziemlich am Ende der Stadt“, erinnert sich eine „Siedlerin“, wie die Erstbewohner:innen damals hießen. Aber sonntags sei die Siedlung wegen ihrer Farbigkeit und ungewöhnlichen Bauweise das Ausflugsziel vieler geworden, „es war die reinste Völkerwanderung“.

Damals begann die stadteinwärts fahrende U-Bahn erst am Thielplatz. Wer von Onkel Toms Hütte aus ins Zentrum der alten City wollte, in die Leipziger Straße, musste zuerst eine halbe Stunde Fußweg und dann 40 Minuten mit der Unterirdischen zurücklegen. Oder den Bus nehmen, der zwischen Thielplatz und Zehlendorf-Mitte pendelte und nach einem Zeitzeugenbericht nicht nur stank, sondern auch „rollte und schlingerte wie ein Schiff in Seenot“.

Bauunternehmer Sommerfeld stellt Gelände für U-Bahn zur Verfügung

Das änderte sich, als der SPD-nahe Bauunternehmer Adolf Sommerfeld das in seinem Eigentum befindliche Gelände der U-Bahn kostenlos zur Verfügung stellte. Den Rohbau der Strecke stellte er ebenfalls auf eigene Rechnung fertig. Parallel dazu trieb der SPD-Bezirks- und Stadtverordnete Richard Draemert den Weiterbau der U-Bahn auf politischer Ebene voran. Am 22.Dezember 1929 wurden die U-Bahnhöfe Oskar-Helene-Heim, Onkel Toms Hütte und Krumme Lanke feierlich eröffnet, mit wehenden Fahnen vor den Kopfbauten der Bahnhöfe, die der Architekt Alfred Grenander entworfen hatte. Damit bekam Berlin drei Kilometer U-Bahn faktisch geschenkt.

Jetzt gab es einen Bahnanschluss zur City, aber immer noch kaum Einkaufsmöglichkeiten. Im Bauernhof der Domäne Dahlem, wo damals schon Kühe standen, fuhr mehrmals wöchentlich ein Pferdewagen los und brachte Milch in die Siedlung. Hausfrauen schleppten hierfür eigene Gefäße heran – und sammelten hinterher die Pferdeäpfel für die Düngung der sandigen Gartenerde auf. Nein, natürlich nicht in demselben Behälter. In den zuerst fertig gestellten Wohngebieten südlich der Argentinischen Allee gab es sechs Geschäfte: die „Grüne Drogerie“ in der Wilskistraße, „Frisierkunst“ in der Riemeisterstraße sowie vier Lebensmittel-Läden in Eckhäusern in der Auerhahnbalz und im Waldhüterpfad. Die einzige gastromische Einrichtung war die „Konditorei Brumm“ im heutigen „Kretaner“. Und was sind schon sechs Geschäfte für die ständig wachsende und bald in die Tausende gehende Siedlerzahl?

Auf der schiefen Bahn – die Ladenstraße entsteht

Große Erleichterung also, als 1930 die beiden Ladenzeilen errichtet wurden. Bauunternehmer war erneut Adolf Sommerfeld, die Entwürfe für die Passagen stammten von Otto Salvisberg und Rudolf Reichel. Wie die Skizzen zeigen, schwebte den Erbauern ein bombastisches Einkaufszentrum vor – in der Wirtschaftskrise ab 1930 wurde dann nur noch ein Teil realisiert.

Kurioserweise gab es aber auch Protest dagegen. Laut einem Zeitungsbericht bildete sich eine Art Bürgerinitiative, die wohl verhindern wollte, dass die Hausfrauen der Siedlung auf die sprichwörtlich schiefe Bahn der Ladenstraße gerieten. Die Resonanz scheint aber gering gewesen zu sein und der Protest erfolglos.

Am 28. November 1931 wurde die Ladenstraße schließlich feierlich eröffnet. Zu Ehren des Bauunternehmers Adolf Sommerfeld hieß sie damals noch „Sommerfeldstraße“ und wurde erst 1935 von den Nazis in „Ladenstraße“ umbenannt. Die Geschäfte hatten eine Größe von 30 Quadratmetern und konnten nach Wunsch in doppelter Größe gemietet werden. Anfangs standen aber noch etliche leer – der prekären Wirtschaftslage geschuldet.

Auffällig war die hohe Kleinteiligkeit und Spezialisierung der inhabergeführten Läden. Die drei ältesten Geschäfte der Lala sind „Elektro-Schäffler“ seit 1931, damals noch unter dem Namen von Klempnermeister Fritz Höft; die „Barbara-Apotheke“ seit 1937 und „Coiffeur Raguse“ seit 1931, damals noch „Salon Wagner“.

Kulturelles und soziales Zentrum war das „Onkel-Tom-Kino“, erbaut von „Kino-Möller“, dem auf Kinobauten spezialisierten Architekten Heinrich Möller. Der Kinosaal – heute Sitz von „Aldi“ – verfügte über gut 700 Sitze. Erstbewohner:innen erinnern sich an die abendlichen Schaufensterbummel und Kinobesuche: „Das Kino, das war hier Korso für die Jungen, und die Kinokasse war ein genauso berühmter Treffpunkt wie die Normaluhr am Bahnhof Zoo.“ Siedler Jürgen Krogmann nannte die Lala „genial eingebaut in die U-Bahn“, ein „echtes Kommunikationszentrum, ein Tratschzentrum mit richtigem Familiencharakter“. Es sei „fast dörflich“ hier.

Tratschzentrum und Kinderspielplatz

Ein anderer Siedler stellte fest: „Irgendwann am Tag trifft man hier jeden, der hier wohnt. Man kauft ein, man kommt an, man fährt weg. Man sieht sich, man grüßt sich, man unterhält sich. Hier ist Tratschzentrum und Kinderspielplatz, denn die schieferen Ebenen, zum mühelosen Auf und Ab für die Kinderwagen gedacht, laden ein zum Rollschuh- und Radfahren – seit Generationen. Die kleinen Läden haben fast Familiencharakter. Man redet sich mit Namen an, hierher schreibt man Postkarten, wenn man in den Ferien ist. Die Eierfrau bekommt fast 100 im Jahr, aus den `Rentner-Wäldern´ (dem Harz und dem Fichtelgebirge), aber auch aus anderen Erdteilen. `An das Eierfräulein mit der Brille, Ladenstraße, Onkel Tom, Berlin-Zehlendorf´, steht auf einer aus Rio de Janeiro.“

Die Siedlung und ihre Lala waren von Beginn an außergewöhnlich. Unter der Anwohnerschaft gab es viele „schräge Vögel“: Künstler, Schriftstellerinnen, Schauspieler. Nach Beobachtung von Irma Schlote, die 1927 als kleines Mädchen mit ihren Eltern hierher gezogen war, wohnten hier „Avantgardisten. Hier haben die Frauen die ersten Hosen getragen.“ Eine Nachbarin von ihr befand, es gehe zu „wie in Klein-Italien“. Die Haustüren seien offen, man sei „im Nachthemd morgens rausgegangen“, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Der französische Journalist Vandoyer schrieb: „Gewiss, solche Häuser machen noch nicht das Glück aus. Doch mindestens laden sie zum Glücklichsein ein.“ Und Josef König, Erster Vorsitzender des „Siedlervereins Zehlendorf-Fischtalgrund e.V.“, kommentierte anlässlich des „Fischtalfestes“ von 1932: „Bauherr, Architekt und Bewohner haben sich ergänzt, um den Weltruf unserer Siedlung zu begründen.“ Seine Schlussfolgerung: „Die schönste Siedlung Berlins!“

Von Sommerfeldstraße zu Ladenstraße. Umbenennung durch die Nazis

Doch schon damals marschierten die Nazis und übernahmen 1933 die Regierung. Adolf Sommerfeld, der der Siedlung drei Kilometer U-Bahn geschenkt hatte, wurde von ihnen aufgrund seiner jüdischen Herkunft drangsaliert und floh mit nur einem Rucksack ins Ausland. 1935 wurde mit der Umbenennung der „Sommerfeldstraße“ in „Ladenstraße“ sein Name symbolisch ausgelöscht. Auch viele andere jüdische Siedlungsbewohner:innen wurden verfolgt, vertrieben und in Konzentrationslagern ermordet. Die „Stolpersteine“ in der Siedlung erinnern an sie.

Im Zweiten Weltkrieg fuhr die U-Bahn nur noch mit bläulichem Schummerlicht. Schaufenster blieben dunkel, das Leben in der Lala erstarb weitgehend.

Unter amerikanischer Besatzung

Dann, 1945, kam die Befreiung. Die Alliierten teilten Berlin in vier Besatzungszonen auf, der Südwesten ging an das US-Militär. Die Ladenstraße wurde eingezäunt: US-Amerikaner:innen konnten dort in einem gut sortierten PX einkaufen, zum Friseur gehen oder in einen Schönheitssalon. Die „Frisierkunst“ an der Wilskistraße wurde zu „Onkel Toms Barber Shop“. Das Kino wurde beschlagnahmt und stand nur US-Angehörigen zur Verfügung, später wurde es der neu entstandenen FU als provisorischer Hörsaal überlassen. Die Gewerbetreibenden wichen auf Garagen und Bretterbuden aus, die sich auf dem Grünstreifen der damals nur zweispurigen Argentinischen Allee befanden. Auch im Hegewinkel 74 konnte man rationierte Lebensmittel „auf Karte“ kaufen, es bildeten sich lange Schlangen vor dem provisorischen Geschäft.

Ab 1946 kehrten die früheren Gewerbetreibenden nach und nach in die Lala zurück, wenn auch nicht alle. Auch das Onkel-Tom-Kino eröffnete 1953 wieder unter seinem alten Betreiber Fritz Staar, nachdem die US-Alliierten mit „Outpost“ sich ein eigenes Kino an der Clayallee gebaut hatten. Das ging gut bis 1968. Wohl weil das Kino mit dem Fernsehen direkt in die Wohnstuben kam, wurde das Kino geschlossen und zu einer Filiale von „Butter-Beck“ umgebaut. Heute residiert hier „Aldi“.

Unruhe kam auch 1967 auf, als die damalige Eigentümerin der Ladenstraße, die Norddeutsche Grundstücksgesellschaft, die Läden völlig umbauen ließ. Denn die Geschäftsinhaber mussten die Kosten selbst bezahlen. Vor allem Ältere konnten das nicht aufbringen und entschlossen sich zum „Total-Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe“. Im August 1967 wurde die Lala mit modernisierter Fassade neu eröffnet.

Die Discounter kommen

Die nächste Krise wurde in den 1980er Jahren durch die Discounter verursacht, die auch in die Ladenstraße einzogen: zuerst Butter-Beck, später Aldi, Schlecker, Rewe und Nahkauf. Viele kleine inhabergeführten Geschäfte konnten sich gegen die Billig-Konkurrenz nicht halten. Sie gaben auf, es folgte Fluktuation und Leerstand – bis hinein in die 2010er Jahre.

Die Zukunft beginnt

Der 2010 gegründete Verein Papageiensiedlung, der im selben Jahr mit seiner „Galerie/ Treffpunkt Siedlung“ einen Doppel-Laden in der Lala bezog, mühte sich nach Kräften, die Ladenstraße attraktiver zu machen. Die damaligen Besitzer, die Immobilienfirma Ansorge, engagierten Heide Wohlers als Ladenstraßen-Managerin, um in einem EU-finanzierten Projekt am selben Strang zu ziehen. Hierfür wurde auch der Onkel-Tom-Verein als Zusammenschluss der Gewerbetreibenden gegründet. Heute ist der Leerstand beseitigt. Und nach jahrelangem Bemühen des Vereins Papageiensiedlung und des Onkel-Tom-Vereins gibt es seit 2015 einen neuen nachbarschaftlichen Treffpunkt: den donnerstäglichen Markt.

Das heißt nicht, dass alle Probleme schlafen gegangen seien. Der Großbrand im November 2020 vernichtete ein Viertel aller Läden, der denkmalgerechte Wiederaufbau kostet viel Zeit, Geld und Nerven. Und die Corona-Pandemie hat kleinen Geschäften zu schaffen gemacht. Dem Reisebüro brachen fast alle Einnahmen weg, es musste nach 70-jähriger Residenz in der Lala schließen.

Nun hoffen alle auf bessere und stressfreiere Zeiten. Die Skizzen für den Wiederaufbau liegen vor – möge er erfolgreich gelingen.

Die Autorin ist Journalistin und Vorsitzende des Vereins Papageiensiedlung e.V.

Quellen:

  • Deutscher Werkbund (Hrg): Werk und Zeit, Aus den 20er Jahren. Eine Erbschaft und ihre Erben. Berlin 1977
  • Knud Wolffram: Handel und Wandel, Ladenstraße im U-Bahnhof Onkel Toms Hütte, Jahrbuch des Zehlendorfer Heimatvereins, Berlin 2015, S.11ff
  • Siedlerverein Zehlendorf-Fischtalgrund (Hrg): Broschüre zum Fischtalfest 1932